Ihre Finger schmerzten, als sie die ausgefransten Borsten des Besens zum gefühlt tausendsten Mal über den Boden des Unterdecks kratzen ließ. Seufzend warf sie den Stiel von sich und ging auf die Knie. Mit einer Drahtbürste und Seifenwasser schrubbte sie den Fleck per Hand, beobachtete ihn dabei, wie sie er sich in seine Einzelteile auflöste und vom Wasser aufgenommen wurde. Sie wischte sich mit dem Handrücken über die schweißnasse Stirn, als sie sich wieder aufrichtete und die groben Überreste erneut mit dem Besen bearbeitete.
„Alvara“, dröhnte eine tiefe Stimme aus ein paar Metern Entfernung, „Feierabend! Hol dir was zu essen und ruh dich aus.“ Das ließ sie sich nicht zweimal sagen. Sie verstaute Besen und Drahtbürste im bereitgestellten Putzeimer und verließ das Unterdeck. Ihr Weg führte sie in die Küche, wo sie die schmutzigen Hände gründlich wusch, sich den Dreck unter den Fingernägeln mit einer harten Bürste wegschrubbte, sich grob mit ihrem Handtuch vom Schweiß befreite und dann zu dem Tisch ging, auf dem die fertigen Sandwiches bereitlagen. Sie schnappte sich einen Teller, lud sich eines mit Thunfisch und eines mit Schinken auf, griff sich eine Flasche Mineralwasser und folgte dann den Männern, die sich in den Aufenthaltsraum des Containerschiffes begaben. Alvara blieb größtenteils stumm, wenn sie mit den bärtigen Hünen zusammensaß. Sie waren nett zu ihr. Manchmal etwas ruppig, aber das war ihre Art. Sie meinten es nicht böse. Sie waren diesen rauen Umgangston gewohnt. Alvara ebenso.
Stumm saß sie bei Tisch, aß ihre Sandwiches. Trank ihr Mineralwasser. Die ersten Männer standen schon wieder auf, um sich in ihre Kajüten zu begeben und die müden Körper zu betten. Das Schnarchen, das nachts aus den nicht verschließbaren Kajüten drang, war unerträglich laut. Alvara hasste es. Sie hatte seit ihrer Kindheit einen sehr leichten Schlaf. Jedes Geräusch riss sie aus ihren Träumen – und sei es nur eine Mücke, die ihre Kreise über ihr zog. Seit Alvara auf diesem Schiff war, schlief sie schlecht. Wachte mehrmals die Nacht auf. Anfangs hatte sie am meisten Angst davor gehabt, seekrank zu werden, doch es stellte es sich heraus, dass ihr die Schaukelei auf dem Wasser nichts ausmachte. Sie fühlte sich sogar wohl, wenn sie auf den grenzenlosen Ozean blickte und die Wellen um den Bug tanzen sah. Letztendlich war es der Schlafmangel, der sie fertigmachte und so sehnsüchtig auf die Ankunft im Zielhafen warten ließ. Ein paar Tage würde sie sich noch gedulden müssen.
Als Alvara aufstand und den Tisch verließ, ließ man sie in Ruhe. Sie hatte Schlimmeres erwartet. Aufdringliche Kerle. Klischeebehaftete Matrosen, die einer nach dem anderen versuchen würden, sie nachts in ihrer Kajüte durchzuficken. Ihre Vergangenheit hatte sie gelehrt, immer vom Schlimmsten auszugehen. Doch sie hatte sich in Klischees und Vorurteilen verloren. Diese Männer waren Arbeiter. Rau und ruppig im Umgang miteinander, manchmal vulgär und etwas ungepflegt, aber sie waren ehrenhafte Männer. Robust und stark und mit einem Moralkompass, der ihnen den Weg wies. Alvara mochte sie. Jeden von ihnen.
Die meisten Crew-Mitglieder verschwanden nach dem späten Abendessen in ihren Kajüten. Alva zog es aufs Oberdeck. Sie setzte sich auf eine Bank, starrte hinaus aufs Meer. Sie zündete sich eine Zigarette an und zählte die verbliebenen, wie sie es immer tat. Sie tat es nicht aus Angst, bestohlen worden zu sein, sondern um sich die restlichen Kippen einzuteilen. Noch ein paar Tage auf See. Noch ein paar Zigaretten übrig. Gut.
Alvara hatte schon früh ihre erste Zigarette geraucht – im Alter von elf Jahren. Sie erinnerte sich an das starke Husten und an den darauf basierenden Schwur, nie wieder an einer Zigarette zu ziehen. Genau drei Wochen hatte sie durchgehalten, dann hatte ihr einer der Jungs im Heim, in dem sie aufgewachsen war, wieder eine Zigarette angeboten. Diesmal hatte sie weniger gehustet. Und Gefallen daran gefunden. Sie hatte ihren Konsum im Griff. Sie rauchte eine, maximal zwei Zigaretten am Tag. Morgens nach dem Aufstehen und abends vor dem Schlafengehen. Es half ihr, ihre Gedanken zu sortieren. Sie fühlte sich entspannt, wenn sie rauchte. Irgendwie friedlicher als ohne.
Tief inhalierte sie den Rauch, behielt ihn für ein paar Sekunden in ihren Lungen und entließ ihn dann mit einem leisen Seufzen zurück in die kühle Nachtluft. Es war eisig hier draußen. Sie hatte sich noch nicht an die Temperatur auf hoher See gewöhnt. Aber irgendwie gefiel ihr das Frieren. Es ließ sie zittern. Sie hatte das Gefühl, zum ersten Mal in ihrem Leben so richtig durchatmen zu können, wenn sie hier draußen saß und fror. Es fühlte sich … lebendig an.
Langsam drehte sie die Zigarette in ihren Fingern. Sie steckte zwischen Zeige- und Mittelfinger. Sanft tippte sie sie mit dem Daumen an. Die Asche löste sich und flog in der sanften Brise davon. Der Blick auf das weite Meer, der Blicks ins Leere, der Blick ins Endlose; er beruhigte sie. Das Meer war bedrohlich, es war groß und voller Gefahren, aber es so still und friedlich zu sehen, vermittelte ihr den Eindruck eines schlafenden Monsters. Solange es schlief, konnte es ihr nichts anhaben.
Der Blick in die seichten Wellen ließ ihre Gedanken abdriften. Zurück nach Portugal, zurück nach Lissabon. Der einzigen Stadt, in der sie je gewesen war. Ihr Weg hatte sie nie hinausgeführt. Bis jetzt. Jetzt hockte sie auf diesem riesigen Containerschiff, sah das Meer. Sie hatte von Lissabon aus oft auf den Atlantik gestarrt, doch nie hätte sie sich erträumen lassen, ihn irgendwann zu überqueren. Doch hier saß sie nun und kam ihrem Ziel immer näher. In ein paar Tagen würde man an einer kanadischen Halbinsel anlegen, genauer gesagt in der Provinz Nova Scotia, am Hafen von Halifax. Neben dem von Vancouver zählte er zu den größten in Nordamerika, und hier dockten hauptsächlich Kreuzfahrt- und Frachtschiffe an. Frachtschiffe wie jenes, auf dem Alvara sich befand. Vor ihrer Abreise hatte Alvara viel über Kanada gelesen. Über die Leute, die dort lebten. Über die Gepflogenheiten. Und vor allem über die Sprachen. Französisch beherrschte sie nicht, aber Englisch sprach sie fließend. Sie hatte etwas Angst davor, sich nicht richtig verständigen zu können, doch mit den Seefahrern sprach sie ebenfalls Englisch, und das funktionierte reibungslos.
Englisch war immer ihr liebstes Schulfach gewesen, die Sprache war simpel und doch vielseitig. In den letzten Wochen in Portugal hatte sie sich vermehrt darauf konzentriert, ihre Alltagssprache zu verbessern, und sie glaubte, dass ihr das gelungen war. Dem großen Abenteuer und dem neuen Lebensabschnitt stand also nichts mehr im Wege. Montreal, ich komme!
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